Ev.-Theol.-Seminar T&uumlbingen

Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Evangelisch-theologische Fakultät
Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis Wintersemester 1996/97


Lehrveranstaltungen

Kirchenordnung

Vorlesungen

5ff Heckel: Kirchenrecht
Do 9-11, Fr 9-10; Beginn: 17.10.;

Die Lehrveranstaltung umfaßt die Geschichte und das System des Kirchenrechts. Sie zeigt die freie, charismatische Ordnung der Urgemeinde, ihre allmähliche rechtlich-institutionelle Verfestigung zur Bischofskirche, deren Erhebung zur Staatskirche des Römischen Reiches im sog. "Konstantinischen System", sowie die Verfremdung und Feudalisierung der Kirche in der Königskirchenherrschaft der Ottonen und Salier und in der germanischen Eigenkirchenherrschaft im Niederkirchenwesen. Sie behandelt die kirchliche Sammlung seit der Kluniazenserreform, den epochalen Streit zwischen Kaiser und Papst (Canossa, Wormser Konkordat 1122), die Entstehung des kanonischen Rechts und des Papalsystems seit dem 12. Jahrhundert, die Auseinandersetzung zwischen Konzil und Papst von den Reformkonzilien des 15. Jh. bis zum 2. Vatikanum, sowie das Verhältnis zwischen Staat und Kirche bis zur Gegenwart. - Das System des katholischen Kirchenrechts bringt einen Überblick über die Rechtsstellung von Papst, Kurie, Konzil, Bischöfen, Priestern und Laien, das Ämterrecht, Ordensrecht, Sakraments- und Sachenrecht, Prozeß- und Strafrecht in der Gestaltung des Codex Juris Canonici und seiner Reform.
Die Geschichte des evangelischen Kirchenrechts umreißt die rechtstheologischen Grundpositionen der Reformation über Kirche, Recht, Obrigkeit, Amt, Reich Gottes und Reich der Welt, Widerstandsrecht u.a., schildert das protestantische Staatskirchentum sowie das Reichskirchenrecht des Konfessionellen Zeitalters (Augsburger Religionsfriede 1555 und Westfälischer Friede 1648), das erstmals - modellartig - Koexistenzstrukturen gegenüber dem Alleinvertretungsanspruch und Wiedervereinigungsstreben der beiden Konfessions- und Weltanschauungsblöcke durchgeprobt hat. Die Aufklärung führt zur Gewissensfreiheit und zum Kirchenbegriff der "Religionsgesellschaften" (vgl. Art. 137 III WRV), zur Abschichtung der Kirche vom Staat im 19. Jh., zur Entfaltung der Kirchenfreiheitsgarantie und zur "Demokratisierung" in der Synodal- und Presbyterialverfassung, die unter dem Summepiskopat des Landesherrn mit Elementen der Konsistorialverfassung verschmilzt. - Ein Abriß des geltenden evangelischen Kirchenrechts umfaßt die Verfassungstypen der Landeskirchen, ihre Regelung von Bekenntnis und Recht, Bischofsamt (bzw. Kirchenpräsidenten) und Synode, Kirchenverwaltung, Pfarramt und Gemeinde, Wahlrecht, Sakramentsrecht, Diakonie, sodann die Zusammenschlüsse in der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland), EKU (Evangelische Kirche der Union), VELKD (Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche in Deutschland), dem Lutherischen Weltbund und dem Ökumenischen Rat der Kirchen.

Die Vorlesung dient dem Erwerb der erforderlichen Kenntnisse in der Wahlfachgruppe Nr. 1 d) (§ 5 Abs. 4, § 8 Abs. 1 Nr. 2 JAPrO [1993]).

Literatur:
Erler, Kirchenrecht, 5. Aufl. 1983; Feine, Kirchl. Rechtsgeschichte. [Bd. 1] Die kath. Kirche, 4. Aufl. 1964; Friedrich, Einführung i. d. Kirchenrecht, 2. Aufl. 1978; Listl/Müller/Schmitz (Hg.), Handbuch d. kath. Kirchenrechts, 1983; Listl/Pirson (Hg.), Handbuch d. Staatskirchenrechts d. Bundesrep. Deutschland, 2. Aufl./2 Bde. 1994/96; Stein, Evang. Kirchenrecht, 3. Aufl. 1992; J. Heckel, Das blinde undeutliche Wort "Kirche", 1964; M. Heckel, Gesammelte Schriften. Staat-Kirche-Recht-Geschichte, 2 Bde. 1989; ders., Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 1983; ders., Zur Ordnungsproblematik des Staatskirchenrechts im säkularen Kultur- und Sozialstaat, JZ 1993, 425 ff.; ders., Gleichheit oder Privilegien? Der Allg. u. d. Besondere Gleichheitssatz im Staatskirchenrecht, 1993.



H Mehlhausen: Die Amtshandlungen der Kirche. Ihre theologische und rechtliche B egründung im 16. Jahrhundert
Mo Mi 12-13; Beginn: 16.10.;

Die neu gewonnenen theologischen Erkenntnisse der Reformatoren führten zu tiefgreifenden Veränderungen in allen Bereichen der krichlichen Ordnung. Ein für die Transformation theologischer Erkenntnis in kirchliche Praxis besonders aufschlußreiches Gebiet stellen die sog. Amtshandlungen ("Kasualien") dar. In erster Linie sind hier Taufe, Trauung und Bestattung zu nennen; aber auch die von den Reformatoren neu entwickelte Konfirmation gehört zu diesem Bereich.

In der Vorlesung werden im Überblick die wichtigsten Entwicklungen dargestellt. Dabei kommt den innerprotestantischen konfessionellen Differenzierungen besonderes Augenmerk zu. Die rechtliche Sicherung der jeweils neuen Amtshandlungspraxis in den Kirchenordnungen wird fallweise nachgewiesen werden.
Literatur:
Da eine Monographie zum Vorlesungsthema fehlt, wird zur Vorbereitung empfohlen, in den großen Nachschlagewerken (TRE, RGG, EKL, WdC) einschlägige Artikel zu studieren (also etwa: Amtshandlungen, Kasualien, Taufe, Trauung, Bestattung, Konfirmation).



Hauptseminare

1ff Heckel: Grundprobleme und aktuelle Fragen des deutschen Staatskirchenrechts in Geschichte und Gege nwart
Di 19-21; Beginn: 15.10.;

Das Seminar befaßt sich mit ausgewählten Grundproblemen aus der Geschichte und der Gegenwart des deutschen Staatskirchenrechts und soll zu einigen aktuellen, in Theorie und Praxis umstrittenen Fragen ausmünden. Das deutsche Staatskirchenrecht ist aus einer langen Kette leidvoller Konflikte entstanden und hat die daraus gewonnenen Erfahrungen in ein ausdifferenziertes, ausgewogenes Rechtssystem eingebracht. Dieses sucht die Freiheit und Gleichheit verschiedener Religionsgemeinschaften in der pluralistischen Gesellschaft mit den säkularen demokratisch und rechtsstaatlich bestimmten Staatszwecken auszugleichen und die Einheit der staatlichen Rechtsordnng zu gewährleisten. Die Verschiedenheit zwischen dem bekenntnisbestimmten Recht der Religionsgemeinschaften und dem bekenntnisneutralen Recht des Staates führt zu Spannungen und Gegensätzen, die das Staatskirchenrecht seit Jahrhunderten behutsamen, freiheitlichen Lösungen zugeführt hat.
Folgende Referate werden ausgegeben:
1. Die Glaubensspaltung als Verfassungsproblem des Alten Reichs. Auswirkungen der Reformation auf das Rechtssystem der Kirche und der Reichsverfassung bis 1555
2. Die Koexistenzordnung der beiden Konfessionen in der Religionsverfassung des Reichs im Augsburger Religionsfrieden von 1555 und im Westfälischen Frieden von 1648
a) Wandlungen des Friedensbegriffs vom Wormser Reichslandfrieden 1495 zum Religionsfriedenssystem von 1555/1648
b) Die reformatorische Lehre "Von der Freiheit des Christenmenschen" und die Ausgestaltung der Religionsfreiheit im Reich 1555 und 1648
c) Formen und Wandlungen der Religionsgleichheit (Parität) zwischen den Konfessionen
3. Die Veränderungen der Religionsverfassung des Reichs durch die Ideen der Aufklärung
a) Der korporationsrechtliche Begriff der "Religionsgesellschaften"
b) Umdeutung der zentralen Institutionen des Reichs
4. Evangelische Kirchenverfassungstheorien im 16.-18. Jahrhundert
a) Das Episkopalsystem
b) Der protestantische Territorialismus
c) Das Kollegialsystem
5. Das gewandelte Verhältnis zwischen Staat und Kirche im 19. Jh.
a) Die Unterscheidung von Staatsgewalt und Kirchengewalt
b) Die Ausformung und die Wandlungen des Landesherrlichen Kirchenregiments
6. Das staatskirchenrechtliche System der Weimarer Verfassung
a) Vom christlichen Staat zum System konfessioneller Neutralität
b) Bedeutungswandel der Weimarer Staatskirchenartikel bei ihrer Rezeption in das System des Grundgesetzes
c) Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und seine Grenze in der staatlichen Kirchenhoheit und in den allgemeinen Schrankengesetzen nach Art. 137 III WRV/140 GG
7. Die neuen Grundfragen des Staatskirchenrechts im Grundgesetz
a) Die Trennung von Staat und Kirche angesichts der neuen Verflechtungen von Staat und Gesellschaft im modernen Sozial- und Kulturstaatssystem
b) Wandlungen der Religionsfreiheit und ihrer Grenzen
c) Der Allgemeine und der Besondere Gleichheitssatz im Staatskirchenrecht
8. Staatskirchenrecht und Kulturverfassung
a) Die theologischen Fakultäten
b) Religionsunterricht und Ethikunterricht bzw. LER-Unterricht in Brandenburg
c) Die sakralen Kunstdenkmäler im staatlichen Denkmalschutz des säkularen Staates
9. Staatskirchenrecht und Sozialstaatlichkeit
a) Wandlungen der Diakonie und Caritas im innerkirchlichen Bereich
b) Die Kooperation von Staat und Kirche im Sozialstaatssystem
10. Die Finanzierung kirchlicher Bedürfnisse im weltlichen Verfas sungsstaat
a) Staatsleistungen
b) Kirchengutsgarantie
c) Das Kirchensteuersystem

Für Theologen: Das Seminar ist ein Hauptseminar im Rahmen der Evang.-theol. Fakultät. Auf die Erstattung eines Referates wird ein Hauptseminarschein für die Fächer Kirchengeschichte, Kirchenordnung erteilt.

Anforderung: Übernahme eines Referats
Anmeldung: Die Referate werden nach der Priorität der Anmeldung am Ende des SS 96 vergeben. Anmeldung bei Herrn Dr. Kraus, Zimmer 146 c, Neue Aula, oder ( 29-72954/78125.



H Mehlhausen: Die Entwicklung des Kirchenverfassungsrechts im 19. Jahrhundert. Von Schleie rmacher bis Sohm
Do 18-20; Beginn: 17.10.;

Die Geschichte des evangelischen Kirchenverfassungsrechts in Deutschland ist im 19. Jahrhundert im wesentlichen von zwei Bewegungen bestimmt worden, die - einander ergänzend und zugleich sich wechselseitig voraussetzend - insgesamt sehr zielstrebig in die gleiche Richtung wiesen. Man kann die erste dieser beiden Bewegungen als eine langsame Ablösung der Kirche vom Staat bezeichnen, die zweite als eine stufenweise Ausbildung eines eigenständigen kirchlichen Rechtskreises, der sich vom staatlichen Recht immer deutlicher abzuheben begann, rechtssystematisch aber nach dessen Prinzipien gestaltet blieb. Im Seminar werden an besonders herausragenden Beispielen Einzelschritte innerhalb dieser Gesamtbewegung aus den zeitgenössischen Quellen heraus rekonstruiert und analysiert.

Dabei müssen insbesondere die allgemeinen politischen Entwicklungen in den deutschen Ländern und die schulbildenden theologischen Neuansätze im deutschen Protestantismus insgesamt mit beachtet werden.
Voraussetzung: Kirchengeschichtliches Proseminar
Qualifikation: Schriftlich ausgeführtes großes Referat; Hausarbeit
Anforderungen: Bereitschaft zum selbständigen Quellenstudium; Kurzreferate
Anmeldung: 1. Sitzung
Literatur:
Joachim Mehlhausen, Kirche zwischen Staat und Gesellschaft. Zur Geschichte des evangelischen Kirchenverfassungsrechts in Deutschland (19. Jahrhundert), in: Gerhard Rau/Hans-Richard Reuter/Klaus Schlaich (Hg.), Das Recht der Kirche. Bd. II: Zur Geschichte des Kirchenrechts, Gütersloh 1995, 193-271. (Hier weiterführende Literaturangaben).



Oberseminare , Kolloquien, Sozietäten

FD Mehlhausen: Die Grundartikel (Bekenntnisartikel) der Kirchenordnungen im europä ischen Vergleich
Mo 20-22; Beginn: 21.10.;

In nahezu allen Kirchenordnungen bzw. Kirchenverfassungen werden in Präambeln bzw. Grundartikeln Aussagen über die Bekenntnisbindung bzw. Bekenntnisbestimmung der jeweiligen (Landes-) Kirche gemacht. Die zwischen diesen Texten bestehenden inneren Verbindungen, Abhängigkeiten und spezifischen Differenzen werden im Oberseminar historisch-kritisch und systematisch-theologisch untersucht. Dabei wird von den Grundartikeln einiger deutscher Landeskirchen ausgegangen; das eigentliche Ziel ist aber der Vergleich mit den Lösungsvorschlägen zur Bekenntnisbindung, die in protestantischen Landeskirchen aus ganz Europa derzeit in Geltung sind.
Voraussetzung: Besuch eines Kirchenordnungs-Seminars
Anforderungen: Englisch- und Französisch-Kenntnisse; weitergehende Sprachkenntnisse sind erwünscht
Anmeldung: Persönlich ab Anfang Oktober in der Sprechstunde



Zurück zu:
|Universität |Fakultät |Inhalt Vorlesungsverzeichnis |

Autor der HTML-Version: Uwe Ernst Bilger(ubilger@ix.urz.uni-heidelberg.de) - 22. Juli 1996

v01-info@uni-tuebingen.de(v01-info@uni-tuebingen.de) - 22. Juli 1996